Kinderveranstaltungen

Dienstag, 14. April 2015

Selbstorganisation in der Biophysik und warum Embryonen so empfindlich sind


"Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile." (Aristoteles) und
"Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nichts weiß." (frei nach Sokrates)

verschiedene Schleimpilze;
Quelle der Bilder und Arten
Motivation: So nun heute der Artikel, der mich zu der Erklärung vom 26.03.2015 genötigt hat.

Wie entsteht aus einer einzigen Zelle ein ganzer Mensch, ohne dass jemand kommt und von außen die Zellen zurecht rückt?
Wie wird von einem Moment auf den anderen aus vielen tausend einzelnen Schleimpilzzellen ein Schleimpilzwurm (vergleiche Dictyostelium discoideum), der plötzlich kriechen und hell von dunkel unterscheiden kann?
Woher "weiß" eine Pflanze, wo ein Blatt hin kommt und wo und wann ihre Blüte?

Die Antwort auf diese und viele weitere Fragen ist, wie der Titel schon verrät, Selbstorganisation. Was ist das nun und wie funktioniert Selbstorganisation im allgemeinen? Wenn man einen Teil der Welt beschreiben möchte, kann man dies auf verschiedene Arten tun - zum Beispiel malerisch, sprachlich oder mathematisch. Ich möchte an dieser Stelle für dich die mathematische Betrachtung wählen. Dafür gibt es das Modell des Systems, du nimmst also einen zusammenhängenden Ausschnitt der Welt, den du interessant findest.

Systeme sind zeitlich oder örtlich oder funktionell verbundene Elemente, die miteinander wechselwirken und sich so beeinflussen. Kannst du ein System mathematisch beschreiben, kannst du damit Aussagen über die Zukunft oder die Gegenwart des betrachteten Systems machen und gegebenenfalls beeinflussen. Zum Beispiel kannst du, wenn du die Umlaufbahn eines Satelliten mathematisch beschreibst, vorhersagen ob der Satellit in ein oder zwei Jahren vielleicht mit einem Meteoriten kollidiert, weiter um die Erde kreist oder vielleicht abstürzt. Für jede Beschreibung musst du dir darüber im klaren sein, was du wissen oder beeinflussen möchtest. Möchtest du die notwendige Energie zur Beschleunigung eines Satelliten beschreiben, musst du dir überlegen, welche Eigenschaften deines Satelliten diese beeinflussen. Da wären zum einen die Masse deines Satelliten, der Ort (gibt es eine Atmosphäre oder nicht?), welche kinetische Energie hat dein Satellit bisher und so weiter. Dies sind die Eingangsgrößen deines Systems und die Beschleunigung des Satelliten ist die Ausgangsgröße. Dinge wie Farbe und Material deines Satelliten sind dabei unwichtig, weil sie die Beschleunigung so gut wie nicht beeinflussen. Interessiert dich hingegen die Temperatur an einem bestimmten Ort in deinem Satelliten, zum Beispiel, weil das eine oder andere Bauteil nur unter bestimmten Temperaturen arbeitet, dann sind auch Dinge wie Farbe (Lichtabsorption) deines Satelliten, Materialien, Form, Stromstärken in den Schaltkreisen und die Umgebungstemperatur von Bedeutung.
Ein System kann Zustände haben, die stabil oder instabil sind. Beschreibt man die Erdumlaufbahn deines Satelliten, würde das bedeuten entweder der Satellit fliegt immer unbeirrt um die Erde, dann wäre seine Umlaufbahn ebenso stabil, wie wenn er auf die Erde stürzt. Letzteres wäre dann dauerhaft eine Fluggeschwindigkeit von Null mit dem Radius der Erde. Fliegt er hingegen in das Weltall, weil seine Geschwindigkeit zu hoch ist, ändert der Satellit dauerhaft seine Position und hat somit keine stabilen Zustände. Der Absturz des Satelliten wäre dabei eine stabile Ruhelage, weil auch kleine "Auslenkungen", also kleine Veränderungen der Systemgrößen immer wieder zu einem Absturz führen würden. Das dauerhafte Kreisen des Satelliten um die Erde ist hingegen keine stabile Ruhelage. Auch relativ kleine Veränderungen der Geschwindigkeit des Satelliten würden zum Absturz oder Wegfliegen führen. Prinzipiell ist die Unterteilung der Ruhelagen noch ein klein wenig komplizierter, aber so ist es an dieser Stelle völlig ausreichend.


Babyentstehung: Man kann auf diese Art und Weise auch andere Dinge beschreiben. Zum Beispiel die räumliche und zeitliche Verteilung der Konzentration von Molekülen oder Zellen. Habe ich also die erste Zelle zu einem Baby (die Zygote), verändert sich der Zustand dieser Zelle, durch äußere und innere Signalstoffe (Moleküle), sodass sie sich teilt und wieder teilt und wieder teilt, wobei jede Zelle genauso aussieht und funktioniert wie die erste Zelle. Irgendwann habe ich dann einen ganzen Haufen von Zellen. Da keine Zelle ein Gehirn hat und nicht denken oder sehen kann, "weiß" die Zelle nichts von sich und ihrer Umgebung. Man hat also nur Moleküle, die mit anderen Molekülen reagieren und zu neuen Molekülen werden oder produzieren.
Fraktale in einer Kugel. Zur Vorstellung,
wie verschiedene Konzentrationen verteilt sein könnten
und Muster ergeben.
Da die Zelle Kontakt zu Nachbarzellen hat bekommt sie aber Moleküle von diesen Nachbarn. Diese Moleküle können dann bewirken, dass die Zelle noch mehr solche Moleküle baut oder sich im Inneren anders verändert. An dieser Stelle ist dann die Stabilität von Bedeutung: kann ein Molekül dafür sorgen, dass die Zelle auf einmal sich immer mehr und immer weiter verändert oder findet die Zelle wieder zurück zu ihrem Anfangszustand? Ersteres wäre ein instabiler Zustand, zweitens ein stabiler. Am Anfang teilen sich die Zellen nur immer und immer wieder und finden dann zum gleichen Zustand wie vor der Teilung zurück. Dies wäre also ein stabiles System. Nun kann es aber passieren, dass nicht nur ein Molekül in die Zelle eindringt, sondern viele Moleküle und die Konzentration immer höher wird. Es ist also nicht nur eine kleine Auslenkung sondern eine große Veränderung der Eingangsgrößen. Dies kann, wie bei den Satelliten erklärt, dazu führen, dass das System (hier die Zelle) andere stabile Ruhelagen einnimmt. Diese Eigenschaft eines Systeme bezeichnet man als Bifurkation. Da die Zellen alle aneinander haften, sind manche Zellen weiter am Rand als andere. Führen jetzt Moleküle, die eine Zelle ausschüttet, dazu, dass andere Zellen diese Moleküle um so mehr produzieren, passiert es, dass die Zellen am Rand weniger dieser Moleküle abbekommen, als Zellen im Inneren. Die Zellen am Rand verändern sich daraufhin anders als die Zellen weiter in der Mitte. Kommen weitere Moleküle hinzu, auch von der Mutti von außen nach innen, die das Verhalten der Zellen beeinflussen, sind die Zellen nicht mehr gleich und reagieren auf zukünftige Signale nicht mehr gleich, denn es entstehen mit jedem neuen Molekül neue mögliche Muster der Verteilung. Würde ich also jeder Molekülart eine bestimmte Farbe mit einer bestimmten Intensität, je nach Konzentration, zuordnen, ergäbe sich daraus ein hübsches Bild. Das ich dies als hübsches Bild bezeichne, kommt nicht von ungefähr. Tatsächlich ist es so das Menschen wirklich solche "stabilen und regelmäßigen" Strukturen hübsch finden. Auf diese Art und Weise fangen manche Zellen dann an zu "wissen", dass sie Gehirnzellen werden sollen, oder zu Augen werden und so weiter. Die Muster der Verteilung solcher Signalstoffe ist dabei relativ stabil. Nehme ich also nur eine Zelle weg oder kommen ein oder zwei Zellen aus dem Takt, wird dieses Muster häufig trotzdem wieder erreicht, sodass die Veränderung der Zellen planmäßig erfolgt.

Lichtmikroskopieaufnahme
eines Embryo im Vier-Zell-Stadium.
Empfindliche Muttis: Nun habe ich dir ja gerade aber auch erklärt, dass bei zu starken Veränderungen nicht immer alle Muster gleich stabil sind und gleich gut wieder zu dem Muster werden, welches zu einem gesunden Baby wird. Ein fertiger Mensch hat diese stabilen Muster zwar auch noch notwendig, aber sie sind viel stabiler, da die äußere Form kaum weiter verändert wird. Außerdem besitzt ein fertiger Mensch Zellen, welche sich opfern können und sterben, damit bestimmte Gifte den anderen Zellen nicht schaden können und einige Zellen haben sich so spezialisiert, dass sie bestimmte Stoffe verdauen können, weil sie sich zum Beispiel nicht mehr teilen können. Ein Fötus oder Embryo hat das zum großen Teil alles noch nicht, oder nicht so stark ausgeprägt. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum schwangere Muttis besonders darauf aufpassen müssen, was in ihren Körper gelangt, damit es dem Baby nicht schadet. Es gibt auch andere Gründe aber die kommen später mal, in anderen Zusammenhängen. 
Zu den anderen Fragen:

Andere Lebewesen: Auch der benannte Schleimpilz findet sich so zusammen und sorgt für eine Veränderung jeder einzelnen Zelle, sodass ein kleiner "Wurm" entsteht. Und genau so "weiß" eine Pflanze, an welcher Stelle sie neue Blätter bauen muss oder bei welcher Temperatur und mit welchen Licht sie Blüten basteln muss, denn Moleküle und damit Zellen können auch durch Licht und Temperatur beeinflusst werden.

--anja--